Das Graue Schloss als „gastliches Haus“, Teil 4

Im Oktober 2020 erhielt ich von der Urenkelin des letzten Harstall im Grauen Schloss, Georg Ludwig Ernst, ein Paket mit Familienfotos und einem alten Gästebuch. Frau Barbara Kuhlmann hatte sich davon getrennt, weil sie, die ohne Kinder oder interessierte Nachfahren in Hamburg lebt, der Meinung ist, diese Gegenstände wären im Mihlaer Museum besser aufgehoben.

Beim Betrachten des Gästebuches stellte ich rasch fest, dass ich da etwas ganz Besonderes in den Händen hielt.

Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges begannen auch trostlose Zeiten für die Bewohner des Grauen Schlosses. Vor allem der fehlende Enkel, der einmal die Güter und den Familiennamen weiterführend sollte, und die immer lauter werdenden Forderungen der Nazis auf Enteignung des Gutes führten zu trüben Nachdenken.

Wirtschaftlich ging es in der Kriegszeit sehr rasch weiter bergab. Die Geschäfte führten nun Wolff von Gudenberg und dessen Ehefrau Annemarie Große-Brauckmann. Es standen kaum noch deutsche Geschirrführer zur Verfügung. Bereits 1942 waren über 300 Männer aus Mihla in die Wehrmacht eingezogen. Fremdarbeiter und Kriegsgefangene kamen auch auf dem Rittergut zum Einsatz.

Allerdings waren für deren Zuteilung die NSDAP und die Ortsstelle des Arbeitsamtes verantwortlich. Dessen Führer ließen den Rittergutsbesitzern ihre Meinung zum Adel und vor allem zum Verhalten der Bewohner des Grauen Schlosses immer wieder deutlich spüren.

So kam es nach dem tragischen Tod von Barbara Große-Brauckmann im Sommer 1941, der jüngsten Tochter und Harstallsenkelin, zu einem erneuten Zusammenstoß mit der Naziobrigkeit.

Das Mädchen war an einer Bauchfellentzündung verstorben.  Obwohl sie den BDM (Nund Deutscher Mädchen) beigetreten war, versagte der NSDAP-Ortsgruppenleiter Streck der BdM-Ortsgruppe, am kirchlichen Begräbnis der Familie in der Mihlaer Kirche teilzunehmen. Öffentlich erklärte er: „… das Kreuz (sei) immer der schlimmste Feind der Bewegung gewesen.“

Im Verlauf des Jahres 1943 wurde immer deutlicher, dass die Nazis beabsichtigten, das aus ihrer Sicht zunehmend unwirtschaftliche Rittergut unter Sequester zu stellen, also eine Zwangsverwaltung herbei zu führen, um so das Problem abschließend durch die Enteignung zu lösen.

Der alte Baron und Wolff von Gudenberg mussten sich daher entschließen, diesem Schritt zuvorzukommen. Ein Kurzurlaub von Große-Brauckmann wurde genutzt, um das Rittergut notariell aufteilen zu lassen. Am 27. August 1943 wurden die Urkunden unterzeichnet.


Der alte Baron mit seiner Enkelin Sabine Große-Brauckmann, Sammlung Kuhlmann, Ortsarchiv Mihla.

Damals war der Besitz des Rittergutes erstmals in seiner Geschichte nicht an die Söhne vererbt wurden, sondern ging auf die Töchter und damit letztlich in die Verfügung der Schwiegersöhne über. Jedes der beiden so entstandenen Rittergüter verfügte über etwa 150 Hektar Ackerland, 50 Hektar Grünland und etwa 150 Hektar Wald. Die Leitung der Betriebe lag in den Händen von Wolff von Gudenberg und Annemarie Große-Brauckmann, eigentlich wurden beide Güter auch weiterhin zusammen geführt.

Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich jedoch immer mehr. Zwar war durch die Vererbung an die Töchter der größte Druck der Nazis, das Mihlaer Rittergut unter Zwangsverwaltung zu stellen, abgewehrt, aber der weitere Kriegsverlauf und die fallenden Preise führten Ende 1944 dazu, dass eine Wirtschaftsplanung für das nachfolgende Jahr nicht mehr möglich war. Letztlich war das Mihlaer Rittergut dem wirtschaftlichen Untergang geweiht.


Annemarie Große-Brauckmann mit ihrem Pferd Hans vor dem Grauen Schloss, Aufnahme aus den frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, Sammlung Kuhlmann, Ortsarchiv Mihla.

All diese Entwicklungen spiegeln sich auch im Gästebuch des Grauen Schlosses wider.

Mit dem Kriegsausbruch 1939 wurde es ruhiger im Schloss. Noch immer kehrten Verwandte ein, aber immer häufiger gab es dann den Hinweis „Auf Urlaub“ oder „…nach schönen Tagen zurück an die Front“.

Offiziere tragen sich als „Gäste“ ein, die auf der Durchreise waren oder deren Einheiten 1940 zur „Auffrischung“ in den Orten der Region einquartiert waren. Diese Eintragungen sind besonders häufig vom Sommer 1940 bis Anfang 1941, als in den Worten des Gästebuches auch der Wunsch nach Frieden und baldigen Sieg ausgedrückt wurde. Dies sollte aber schon 1941 ganz anders kommen.

Der Krieg im Osten veränderte alles. Nun waren bald verwundete Soldaten zur Genesung im Schloss untergebracht, die offenbar bei Frau Annemarie Große-Brauckmann eine gastfreundliche Aufnahme fanden.

Nicht erwähnt werden allerdings die Namen der „Ostarbeiter“ und französischen und russischen Kriegsgefangenen, die nun in den Erntemonaten auf dem Gut schuften mussten. Sie kamen wohl über die Küche in der Knechtkammer nicht hinaus und hinterließen im Schloss keine weiteren Spuren. Dagegen stoßen wir auf etliche Eintragungen von „Dienstmädchen aus der Stadt“, von der „Wickchen“ sogar eine Freundschaft zur Gutsherrin Annemarie entwickelt hatte. Sie war seit 1941 mehrfach im Schloss untergebracht. Eingetragen im Gästebuch haben sich u.a. im Oktober 1941 auch die „Arbeitsmaiden“ Maria Thielmann und Olga Kremer aus Luxemburg, die wohl zum Hauspersonal zählten.

Nachdenklich wurden nun auch die wenigen Eintragungen der Familienmitglieder, die sich noch als Gäste im Grauen Schloss einfanden. So der Vetter Wilhelm, der noch einige Jahre zuvor eingetragen hatte „Deutsch sein heißt treu sein!“, als er im März 1943 zur Geburtstagsfeier in der Familie einen Fronturlaub im Schloss verbringen konnte, ehe er wieder in das „trostlose“ Wilhelmshafen zurück musste. Seine Hoffnung, man möge doch an allen zukünftigen Geburtstagen so frohe und schöne Stunden verleben sprechen von wenig Zuversicht. Tatsächlich war Wilhelm im Sommer 1943 nochmals im Grauen Schloss, wieder während eines Urlaubs, ehe er „… an den Atlantik hinaus…“ musste, von dem er als U-Bootfahrer nicht mehr zurückkehrte. Sein Wunsch; „… hoffen wir, dass tatsächlich einmal alles vorüber ist…“ erfüllte sich, allerdings ohne ihn.


Eintragung von Vetter Wilhelm im Juni 1944 nach seinem Fronturlaub im Grauen Schloss.

 

Die Eintragungen werden nun immer weniger. Stellvertretend für die allgemeine Stimmung der Eintrag eines Verwandten, „Walter“, der im Mai 1944 seinen Fronturlaub im Schloss verbrachte:“… dass der Krieg nun bald sein Ende findet.“

Darüber und was im Grauen Schloss 1945 geschah demnächst mehr.

Rainer Lämmerhirt

-Ortschronist-

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